Die Patientenperspektive verstehen –
das Patientengespräch steuern

Ein Beitrag von Cäcilie Skorupinski

Als eine junge Frau von ihrem Neurologen die Diagnose eines nicht operablen Hirntumors erhielt, fragte sie schockiert: „Oh Gott, was soll ich jetzt machen?“ Der Arzt antwortete: „Ihr Testament, was sonst“. Leider war das kein schlechter Scherz. Dies geschah der Schwester einer bekannten Kriminalautorin. Auch folgendes Beispiel ist belegt. So wurde die MS Diagnose mit folgenden Worten eingeleitet: „In Ihrem Fall wäre jetzt eine Berufsunfähigkeitsversicherung gut.“

Warum kommunizieren Menschen auf diese Art? Sind sie unsensibel? Ist ihnen die Gefühlswelt des Gegenübers schlicht egal? Ich denke, es ist ein Problem von unterschiedlichen Kommunikationsebenen. Während gerade bei schlechten Diagnosen die Amygdala des Patienten die Gefühlsebene befeuert, kommuniziert die andere Seite auf der Sachebene. Das kann nicht funktionieren. Wenn wir schlechte Nachrichten zu überbringen haben, sind zwei Dinge grundlegend. Kommunikation auf gleicher Ebene und Verständlichkeit. Heinrich Heine sagte: „Nur das Gefühl versteht das Gefühl“ und Platon schrieb: „Wir sehen die Welt nicht wie sie ist, sondern interpretieren sie durch unsere Filter“.

Schlussendlich können uns beide Zitate in der Kommunikation mit Patienten unterstützen. Der erste Schritt besteht in der Perspektivübernahme. Beim Überbringen schlechter Nachrichten spielen die eigenen professionellen Filter eine zunächst untergeordnete Rolle. Einzig die Filter des Patienten bestimmen die Art der Informationsaufnahme. Sieht sich der Kommunikationspartner bedroht, hat er Angst, ist er wütend, wird die Nachricht durch eben diese Filter interpretiert. Auf die Interpretation erfolgt die Reaktion und diese ist in dem Fall dann emotional. Erklärungen und Lösungen richten sich an „moderne“ Zentren das Großhirn. Das limbische System ist jedoch ein phylogenetisch viel älterer Teil. Ist die Amygdala in Aufruhr, regiert das Gefühl. Sachliches Begreifen und analytisches Abwägen haben in solchen Momenten Sendepause. Das zu verstehen, ist für den Eingangskontakt grundlegend und sogar für die später angestrebte Adhärenz eine Notwendigkeit.

Die Komplexität der Wissensspirale des Patienten anpassen

Drei Begriffe, die ich für sehr wichtig erachte, möchte ich aufgreifen: Komplexitätsreduktion, Übersetzung und Fraktionierung.

Komplexitätsreduktion, die Auswahl des „Wie vieles“ und des „Was“. Auch hier bleiben wir bei der Perspektivübernahme. Allein ausschlaggebend ist die Patientenseite. Welche Informationen in welcher Detaildichte sind zu welchem Zeitpunkt angemessen. Und nicht: Wie viel Zeit verbleibt mir noch für den Patienten und wie viele Informationen passen in mein schmales Zeitfenster. D A S, die andere Seite, können wir uns wie eine Wissensspirale vorstellen. Jeder Mensch hat seine individuelle Wissensspirale, die er sich in Laufe seines Lebens mit Ausbildungen und Erfahrungen angeeignet hat. Höre ich z.B. eine Vorlesung, besuche eine Informationsveranstaltung, erhoffe ich mir, meine Bereiche bestätigt, ergänzt und Wissenslücken aufgefüllt zu bekommen – angemessen an meine eigene Wissensspirale. Ist der Inhalt zu detailreich, übersteigt meine Wissensspirale überwiegend oder unterfordert mich, kann ich keinen Informationsgewinn für mich generieren.

Die Inhalte fraktionieren. Beim Verkünden schlechter Nachrichten, wie z.B. einer schwerwiegenden Diagnose kommt neben dem Wissenstand des Patienten seine Gemütsverfassung hinzu. Ist der Patient emotional stark tangiert, ist dies ebenfalls zu berücksichtigen, da, wie bereits beschrieben, die Sachaufnahme durch das Kleinhirn eingeschränkt ist. Diesen Fakt möchte ich hier nochmals betonen, da in emotionalem Aufruhr komplexe Sachinformationen im besten Fall nur bruchstückhaft, eher aber fehlerhaft oder fast gar nicht die andere Seite erreichen. Daher die Leitfragen: Was sind jetzt in dieser Gesprächssituation für meinen Patienten mit seinem Vorwissen und seiner Gemütslage die wichtigsten Informationen. Wie wird auf die Nennung der Diagnose reagiert? Werden detaillierte Nachfragen gestellt? Verhält sich der Patient ruhig und/ oder emotional verunsichert? Im ersten Fall ist ein weiteres Eingehen auf die Diagnose und den möglichen Therapieverlauf wahrscheinlich angemessen. Im zweiten Fall stehen uns zwei Wege zur Wahl. Das Gespräch zu Fraktionieren. Geben Sie dem Gegenüber eine Chance, die schlechte Nachricht zu verdauen. Jede weitere Erklärung würde sehr wahrscheinlich den Empfänger nicht in gewünschter wissensanreichernder Weise treffen. Oder verschaffen Sie sich durch eine Nachfrage Gewissheit. „Die Information trifft Sie erst einmal schwer, das kann ich gut verstehen. Haben Sie im Moment Fragen an mich? (mind. 5 Sekunden Pause) Ich schlage Ihnen ansonsten vor, unser Gespräch beim nächsten Treffen fortzusetzen. Da sprechen wir dann über konkrete Therapiemöglichkeiten und alles weitere.“

Einfachheit im Ausdruck. Wenn wir die Verständlichkeitskriterien der Mündlichkeit nach Schulz von Thun anlegen, haben wir insgesamt eine gute Schablone für das Überbringen einschneidender Diagnosen, sogar generell für das Patientengespräch. So findet sich unsere eben besprochene Komplexitätsreduktion im Punkt Einfachheit im Ausdruck und im Punkt Kürze und Prägnanz wieder. Genauer betrachtet: Einfachheit im Ausdruck. Die Beurteilung, was einfach ist, erfolgt ausschließlich über die Perspektivübernahme. Ebenso wie die Perspektivübernahme ist die Selbstreflektion für diesen Punkt unerlässlich. Folgende Fragen können wir zum Vorbereiten einer patientengerechten Gesprächsführung mit uns selbst klären. Welche Fremdwörter, Fachbegriffe werde ich gewöhnlich verwenden? Sind diese meinem Patienten geläufig? Wenn „ja, die Begriffe sind bekannt“, dann ist die Einfachheit gesichert. Wenn „nein, oder ich weiß nicht genau“, dann folgt die Frage: Ist das Verwenden des Fachvokabulars unerlässlich wichtig? Wenn „nein, das kann ich auch in anderen Worten sagen“, dann bitte diese wählen. Wenn „ja, mit diesen Fachbegriffen, wird mein Patient auch weiterhin im Therapieverlauf konfrontiert sein“, dann erfolgt die Erklärung der Fachbegriffe. Am besten gelingt die Klärung über das Anknüpfen an das Wissensnetz des Gesprächspartners, also an Bekanntes. Unterstützend ist hier das nächste Kriterium der Verständlichkeit, die Anschaulichkeit.

Vergleiche aus der Erlebniswelt des Patienten. Mit der Anschaulichkeit gelingt es uns, Abstraktes konkret zu machen. Die medizinische Fachsprache ist, wie alle Fachsprachen, für den Laien erst einmal abstrakt. Es finden sich keine Abbilder hierfür im eigenen Erkenntnisvorrat. Vergleichbar, als wenn man einem Kind das Einmaleins rein über Zahlen beibringen möchte. Eine Zahl ist abstrakt und somit noch nicht „begreifbar“. 1+1=2 – kein Verständnis. Ein Schokoriegel und noch ein Schokoriegel macht zwei Riegel – konkret verständlich.

Bei einem Coaching eines Oberarztes der Gerontopsychiatrie bat ich ihn, seinem Patienten die Diagnose Stenose des Herzkranzgefäßes zu vermitteln. Nachdem er anfangs die Begriffe Plaques und die Differentialdiagnose zur Aortenklappenstenose erörterte, nahmen wir uns der Perspektive des Patienten an. Das war in diesem Falle geradezu eine Vorlage. Der Patient war im früheren Berufsleben Heizungsbaumonteur. Dem Arzt gelang es, seinem Patienten die Diagnose mit dem Vergleich zu mit Kalk belegten Rohren und den drohenden Schaden für die Therme verständlich zu machen. Es helfen also Bilder (die MS ist wie ein Pilz, das unterirdische Wachstum sehen wir nicht, oder die MS schläft nicht), Vergleiche und Beispiele, möglichst aus der konkreten Erlebniswelt des Patienten.

Kurz und prägnant kommunizieren

Den Punkt Kürze und Prägnanz hatten wir bereits thematisiert, er soll jedoch noch ergänzt werden. Ganz praktisch ist er auf die Satzlänge anzuwenden, wobei wir besser von Satzkürze sprechen sollten. Je komplexer der Inhalt, je schwieriger er ist (emotional oder faktual), desto einfacher sollte die Grammatik sein, in die wir den Inhalt kleiden. Eine schwierige Information in einen komplizierten Satzbau gepackt, erschwert zudem unnötig das Verständnis. Sicher drücken wir uns grammatikalisch nicht absichtlich kompliziert aus. Das Verwenden von Nebensätzen, Einschüben, Abschweifungen resultiert aus dem Erklärmodus. Wir denken über den zu vermittelnden Verhalt simultan. Haben viele Informationen, Ausnahmen, Beispiele, etc. im Kopf. Das kommt zum Sprach-Ausdruck in Form von verschachtelten Sätzen. Jedoch erneut betont: Je schwieriger der Inhalt, vor allem wenn die emotionale Komponente eine große Rolle spielt, je kürzer die Aufmerksamkeitsspanne. Also sei der Punkt „Kürze und Prägnanz“ nun so abgeschlossen: Zu der partnerorientierten Informationsauswahl und der wenn nötig kurzen Gestaltung des Diagnosekontaktes, kommt die Achtsamkeit auf die Verwendung kurzer klarer Sätze hinzu.

Die rhetorischen Grundstrukturen

Gliederung und Ordnung soll der letzte Punkt sein. Zwei rhetorische Grundstrukturen, zurückgehend auf Cicero können uns als Leitfaden dienen. Die Pyramide, hier geht die Zielaussage voran und der Trichter, hier schließt die Struktur mit der Zielaussage.

Die hörbaren Gelenkwörter der Struktur, hier „erstens, weiterhin, drittens“, gliedern das schwer zu verstehen in nachvollziehbare Informationshappen.

Das Überbringen schwieriger Diagnosen wird immer eine Herausforderung bleiben. Mit Perspektivübernahme und bewusst sprachlicher und sprecherischer Vorbereitung mag es für beide Seiten ein wenig leichter werden.

Zur Person

Cäcilie Skorupinski ist Diplom-Sprechwissenschaftlerin und seit 1995 in der Wirtschaftsrhetorik freiberuflich tätig – als Coach, Moderatorin und Dozentin.

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