„Unsichtbare MS-Symptome“ bei Multipler Sklerose

Die Symptome einer Multiplen Sklerose beschränken sich nicht auf die Entwicklung von Behinderungen und Sensibilitätsstörungen, wie häufig angenommen wird. Neben den augenfälligen Symptomen der Erkrankung machen den Patienten sehr häufig weitere Beeinträchtigungen zu schaffen. Dazu gehören vor allem die chronische Erschöpfung, die als Fatigue bezeichnet wird, sowie kognitive Einbußen und Depressionen.1 Kognitive Einbußen können dabei sogar schon bei einem niedrigen EDSS manifest sein.2

Sie werden oft als „unsichtbare Symptome“ der Multiplen Sklerose bezeichnet und können sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. So kann zum Beispiel die Fatigue einerseits nur mild bis moderat ausgeprägt sein und im Krankheitsverlauf variieren. Sie kann andererseits aber auch als sehr belastend erlebt werden, die Lebensqualität nachhaltig schmälern und sogar die Berufsfähigkeit in Frage stellen.

Weitere potenzielle Begleiterscheinungen der Multiplen Sklerose, die von den Patienten oft nicht beim Arzt oder Apotheker verbalisiert werden, sind Tabuthemen wie Blasenfunktionsstörungen und sexuelle Funktionsstörungen.

Auch wenn eine zielgerichtete Behandlung der „unsichtbaren Symptome“ bei Multipler Sklerose bislang in vielen Fällen nicht zufriedenstellend möglich ist, wird der Umgang mit solchen Begleiterscheinungen leichter, wenn Patienten die Problematik mit ihrem Arzt oder Apotheker besprechen und die Veränderungen als Begleitsymptom der Multiplen Sklerose erkennen und akzeptieren können.

Es ist zudem wichtig, zwischen einer Fatigue, einer Depression und kognitiven Störungen sowie einer potenziellen Überlappung der „unsichtbaren Symptome“ zu differenzieren. Einzelne dieser unsichtbaren Symptome bei Multipler Sklerose wie eine Depression oder eine erhöhte Ängstlichkeit sind nämlich behandelbar.

Fatigue – Gefühl einer starken Erschöpfung bei Multipler Sklerose

Die Bedeutung der Fatigue bei Multipler Sklerose wurde lange unterschätzt. Die Störung manifestiert sich bei bis zu 96 Prozent der MS-Patienten.Für viele Patienten stellt die Fatigue das am stärksten belastende Symptom der MS dar.1 Es handelt sich dabei um einen subjektiv erlebten Mangel an physischer und/oder mentaler Energie, so dass zwischen einer motorischen und einer kognitiven Fatigue zu differenzieren ist.

Die Betroffenen geben eine zum Teil massiv erhöhte Erschöpfbarkeit an und sind in ihrer körperlichen und/oder geistigen Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Die Fatigue bei Multipler Sklerose kann vorübergehend während des Tages oder in bestimmten Krankheitsphasen oder auch als chronisch persistierendes Phänomen auftreten. Sie kann so ausgeprägt sein, dass der Alltag und besonders die beruflichen Anforderungen nicht mehr zu bewältigen sind.

Fatigue wird entsprechend ihrer Entstehung in eine primäre und eine sekundäre Form unterteilt. Die primäre Fatigue entsteht ohne ersichtliche Ursache aufgrund der krankheitsbedingten Veränderungen im ZNS. Die sekundäre Form tritt als Folge von Schlafstörungen, Medikamentennebenwirkungen, Anämie, Schmerzen oder Spasmen, Blasenstörungen, psychiatrischen Erkrankungen oder Störungen der Schilddrüsenfunktion auf. Wobei es sich bei diesen Auslösern der Fatigue auch um Langzeitfolgen der MS handeln kann.3,4 Getriggert werden kann die Fatigue durch eine verstärkte Krankheitsaktivität, durch den Einsatz bestimmter Immunmodulatoren, aber auch durch eine hohe Stressbelastung.

Das Phänomen ist diagnostisch schwer objektiv zu fassen. Die Diagnose basiert auf den subjektiven Angaben der Patienten sowie neurophysiologischen Testverfahren. Die Schwere der Störung ist anhand von Scores wie beispielsweise der „Fatigue Severity Scale“ (FSS) und dem „Functional Assessment of Multiple Sclerosis“ (FAMS) zu erfassen.5 Hilfreich ist zudem das Führen eines Fatigue-Tagebuchs, in dem Patienten das zeitliche Auftreten und die Schwere der Symptomatik vermerken.

Abzugrenzen von der Fatigue ist die Depression, wobei jedoch bei Multipler Sklerose oft beide Symptome überlappend auftreten.

Kognitive Beeinträchtigungen bei Multipler Sklerose

Die Mehrzahl der Menschen mit Multipler Sklerose entwickelt im Verlauf der Erkrankung kognitive Störungen. Das beklagte Nachlassen der kognitiven Leistungsfähigkeit wird mit der bei vielen Betroffenen in der Kernspintomographie zu beobachtenden Hirnatrophie in Zusammenhang gebracht. Die Hirnatrophie korreliert mit der kognitiven Beeinträchtigung und der Progression der Behinderung bei MS.6 Der Hirnvolumenverlust als Kennzeichen der MS ergibt sich aus der Demyelinisierung der weißen Substanz des Hirns und aus der Zerstörung von Axonen und Neuronen. Die pathophysiologischen Ursachen sind noch nicht abschließend verstanden und der Gegenstand von aktueller Forschung.5

Kognitive Defizite können für die Patienten gravierende Konsequenzen in vielen Lebensbereichen haben. Sie können die berufliche Leistungsfähigkeit ebenso wie die allgemeine Lebensqualität massiv beeinträchtigen. Der Erhalt des Hirnvolumens ist daher ein wichtiges Therapieziel und spricht für eine frühzeitige effektive Behandlung der Multiplen Sklerose nach dem Motto „Time ist Brain“.7

Therapie der „unsichtbaren Symptome“ der MS

Die Möglichkeiten der Behandlung „unsichtbarer Symptome“ der Multiplen Sklerose sind limitiert. Eine Besserung der Fatigue wie auch eine dauerhafte Reduktion der Hirnatrophie sind unter einer MS-Impulstherapie beschrieben.8 Als hilfreich haben sich außerdem erwiesen:

  • Entspannungsübungen wie zum Beispiel Yoga und Autogenes Training
  • Bewegung bis hin zu sportlicher Aktivität, vor allem ein aerobes Ausdauertraining
  • eine klare Strukturierung des Tages
  • das Einhalten regelmäßiger Pausen
  • die Priorisierung anstehender Aufgaben
  • Kühlung zum Beispiel in Form kalter Duschen oder des Tragens einer Kühlweste.

Therapeutisch und insbesondere auch vorbeugend wird im Hinblick auf kognitive Störungen zu einem gezielten kognitiven Training bei Multipler Sklerose geraten. Der Einfluss solcher Maßnahmen ist bislang jedoch nicht evidenzbasiert dokumentiert.

Es gibt zudem Beobachtungen, wonach einige immunmodulatorisch und immunsuppressiv wirksame Medikamente insbesondere eine bestehende Fatigue verstärken können, während andere MS-Medikamente sogar positive Effekte auf die „unsichtbaren Symptome“ wie die Fatigue und die Kognition haben können.9

Referenzen

1. Penner IK et al., Acta Neurol Scan 2016; 134 (Suppl. 200): 19–23
2. Flachenecker P et al., Mult Scler 2017; 23 (2 suppl) 78–90
3. Tur C , Curr Treeat Options Neurol 2016; 18: 26
4. Olbert E et al., psychopraxis. Neuropraxis 2019; 22: 52-57
5. Cella DF et al., Neurology 1996; 47 (1): 129–139
6. De Stefano N et al., CNS Drugs 2014, 28: 147–156, doi: 10.1007/s40263-014-0140-z
7. Linker R et al., Nervenarzt 2015; 86 (12): 1528–1537
8. Ziemssen T et al., Ther Adv Neurol Disord 2017; 10 (10): 343–359
9. Arroyo R et al., Mult Scler 2017: 23 (10) 1367–1376, doi: 10.1177/1352458516677589
10. Metz LM et al., J Neurol Neurosurg Psychiatry 2004; 75 (7): 1045–1047
11. Zivadinov R et al., Expert Rev Neurother 2016; 16 (7): 777–793

Zusammenfassung

Bei Patienten mit Multipler Sklerose ist gezielt auch nach sogenannten „unsichtbaren Symptomen“ wie der Fatigue, Depressionen und kognitiven Veränderungen zu fragen. Denn solche Beeinträchtigungen werden von den Patienten im Gespräch oft nicht spontan verbalisiert. Sie können die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigen und auch die Berufsfähigkeit in Frage stellen. Die therapeutischen Möglichkeiten sollten unbedingt ausgeschöpft werden, sind allerdings begrenzt. Doch schon das Gespräch mit Arzt, Aptheker oder MS-Nurse sowie das Vermitteln allgemeiner Tipps können wesentlich zur Symptombewältigung beitragen.

MAT-DE-2304276-1.0-09/2023