Diagnose
Die meist unspezifischen Symptome der MPS I führen häufig zu falschen oder verspäteten Diagnosen (Beck 2014).
MPS I ist eine seltene Erkrankung mit häufig sehr unspezifischen Symptomen. Möglicherweise war auch noch nie ein Patient mit dieser Erkrankung in Ihrer Praxis/Klinik, was eine Diagnosestellung zusätzlich erschwert.
Hier erfahren Sie mehr über die Diagnosestellung einer MPS I sowie die möglichen Differenzialdiagnosen, die man in Betracht ziehen sollte. Zudem erhalten Sie Tipps für den Praxisalltag, die Ihnen dabei helfen können, eine möglichst frühzeitige Diagnose zu stellen – ein essenzieller Aspekt, um Patienten mit MPS I möglichst effektiv zu helfen.
Unspezifische Symptome einer MPS I können zu falschen oder verspäteten Diagnosen führen
Die Erstmanifestationen einer MPS I-Erkrankung sind meist unspezifisch und können mit vermehrten Hals-Nasen-Ohren-Infekten, Atemgeräuschen, wie z. B. Schnaufen oder Schnarchen, Nabel- und/oder Leistenbrüchen (Hernien) oder auch Entwicklungsstörungen einhergehen. Weiterhin können Symptome wie Gelenkkontrakturen und -steifigkeit oft zu Verwechslungen mit anderen weitaus häufigeren Erkrankungen führen (Beck 2014). Das Hurler-Syndrom wird aufgrund des rasch progredienten und offensichtlichen Verlaufs meist schnell diagnostiziert. Bei den attenuierten Formen Morbus Hurler-Scheie und insbesondere bei Morbus Scheie ist die Diagnosestellung jedoch eine größere Herausforderung, da die Erkrankung langsamer fortschreitet und die Symptome subtiler erscheinen. Die Herausforderung aus den unspezifischen Symptomen die richtige Diagnose zu stellen, führt im Mittel dazu, dass die Diagnose bei Hurler-Patienten 0,5 Jahre, bei Hurler-Scheie-Patienten ca. 2 Jahre und bei Scheie-Patienten erst 4 Jahre nach Auftreten der ersten Symptome gestellt wird (Abb. 1) (Beck 2014).
M. Hurler | M. Hurler-Scheie | M. Scheie | |
---|---|---|---|
Medianes Alter bei Erstmanifestation |
0,5 Jahre | 2,0 Jahre | 4,9 Jahre |
Medianes Alter bei Diagnose |
0,9 Jahre | 3,6 Jahre | 9,4 Jahre |
Tabelle 1: Medianes Alter bei Erstmanifestation und Diagnosestellung bei den verschiedenen Verlaufsformen von MPS I; modifiziert nach (Beck 2014).
Diagnostik
Symptomkombinationen können ein Hinweis auf MPS I sein. Eine ungewöhnliche Progression der Symptome sollte immer zur Abklärung führen.
Symptomkombinationen als Hinweis auf MPS I nutzen
MPS I – Verwechslungsgefahr mit anderen Erkrankungen
Besonders bei den attenuierten Verlaufsformen von MPS I sind die Symptome leicht mit denen anderer Erkrankungen zu verwechseln. Im Folgenden werden die häufigsten Differenzialdiagnosen erläutert.
Skelettdysplasie bei MPS I
Die Gruppe der Skelettdysplasien umfasst über 400 verschiedene Krankheitsbilder, zu denen auch lysosomale Speicherkrankheiten (LSD) und somit MPS I gehören. Die skelettale Beteiligung bei den LSD wird als Dysostosis Multiplex bezeichnet und sollte gegenüber den zahlreichen anderen Skelettdysplasien mit ähnlichem Symptombild abgegrenzt werden (Lampe 2016a, Muenzer 2011).
Beispiele für ähnliche Skelettdysplasien sind:
- Spondyloepiphysäre Dysplasie
- Bilaterale Perthes-Krankheit
Differentialdiagnosen
Bis zu 72 % der Gelenkkontrakturen bei MPS I werden anfangs einer rheumatoiden Arthritis zugeordnet (Bruni 2016).
Gelenkkontrakturen / Gelenksteifigkeit / Gelenkschmerzen
Symptome wie Gelenkkontrakturen (Abb. 2) und -steifigkeit sowie Gelenkschmerzen können leicht zu Verwechslungen mit anderen Erkrankungen führen. Gerade bei Patienten mit einem attenuierten Verlauf und langsamer Progression ist die Diagnosestellung deutlich erschwert.
Die häufigsten Fehldiagnosen sind:
- Juvenile idiopathische Arthritis (JIA) / rheumatoide Arthritis (RA)
- Rheumatisches Fieber
Gemäß einer Datenerhebung haben bis zu 72 % der Ärzte basierend auf einer MPS I-Symptomatik mit Gelenksteifigkeit, Hernien-Operationen und Paukenröhrchen eine rheumatoide Arthritis (RA) vermutet (Bruni 2016).
Juvenile idiopathische Arthritis / Rheumatoide Arthritis als Differentialdiagnosen
Aufgrund von häufigen Beschwerden der Hand-, Knie-, Schulter- und Fingerendgelenke werden Patienten mit MPS I häufig an einen Rheumatologen oder Orthopäden überwiesen. Dort wird dann oft die Verdachtsdiagnose juvenile idiopathischen Arthritis (JIA) bzw. speziell die Rheumafaktor-negative Polyarthritis (RF-PA) oder rheumatoide Arthritis (RA) gestellt.
Gemeinsames Merkmal dieser Erkrankungen sind die Bewegungseinschränkungen, Schmerzen und Gelenkkontrakturen, sowie bei den Polyarthritiden ein meist symmetrischer Gelenkbefall. Wichtigstes Unterscheidungsmerkmal zwischen einer MPS I und den rheumatischen Erkrankungen ist jedoch das Fehlen der Entzündungszeichen sowie das Ausbleiben der Rheuma-typischen Morgensteifigkeit bei MPS I. Ein weiterer Unterschied ist eine im Verlauf der MPS I-Erkrankung auftretende Schultergelenksbeteiligung. Im Gegensatz zur JIA / RF-PA tritt diese schon früh im Erkrankungsverlauf auf und kann einen wesentlichen Hinweis auf das Vorliegen einer MPS I liefern. Weitere Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Rheumafaktor negativen Polyarthritis und MPS I finden sich in Tabelle 1. Abbildung 3 zeigt die Unterschiede im Erscheinungsbild zwischen MPS I und JIA auf (Bruni 2016, Cimaz 2009, Manger 2006, Minden 2019).
Polyartikuläre JIA | MPS I (Morbus Scheie) | |
---|---|---|
Gemeinsamkeiten |
||
Führende Symptome |
Bewegungseinschränkung und Gelenkkontrakturen |
|
Gelenkbefall |
Polyartikulärer symmetrischer Gelenkbefall |
|
Unterschiede |
||
Bevorzugt betroffene Gelenke |
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Diskriminierende Symptome |
|
|
Weitere muskuloskelettale Symptome |
|
|
Extramuskuloskelettale |
|
|
Diagnosebeweisende Labortests |
keine |
|
Tabelle 1: Differenzialdiagnose JIA (Rheumafaktor-negative Polyarthritis) – attenuierte MPS I; modifiziert nach (Minden 2019).
Fehlen bei Gelenkkontrakturen die Entzündungszeichen und ist das Schultergelenk in der Beweglichkeit eingeschränkt, sollte eine weitere Abklärung auf das Vorliegen einer MPS I-Erkrankung erfolgen.
Weitere Differentialdiagnosen
Zusätzliche Differenzialdiagnosen, die bei Verdacht auf MPS I berücksichtigt werden sollten, sind andere Formen der Mukopolysaccharidose sowie weitere lysosomale Speicherkrankheiten, wie z. B. Mukolipidosen, α-Mannosidose und die Multiple Sulfatase-Defizienz (Austin-Syndrom). Diese treten jedoch noch seltener auf und lassen sich durch enzymatischen bzw. molekulargenetischen Nachweis diagnostizieren (Lampe 2016b).
Mehr Informationen zu den Klassifikationen von Mukopolysaccharidose Typ 1 finden Sie hier.
Klinische Diagnostik bei MPS I
Für eine erfolgreiche Behandlung von Patienten mit MPS I ist eine möglichst frühzeitige Diagnose entscheidend. Es ist daher von sehr großer Bedeutung, dass an einer Diagnose beteiligte (Fach-)Ärzte die charakteristischen Symptome von MPS I und die verschiedenen Verlaufsformen kennen und so die Krankheit korrekt diagnostizieren können. Für die Diagnostik sind eine ausführliche Anamneseerhebung sowie klinische Untersuchungen essenziell, denn bereits dabei können sich erste Hinweise auf das Vorliegen einer MPS I ergeben. So ist es möglich, dass Sie schon bei der ersten Vorstellung eines Patienten in Ihrer Praxis eine MPS I-Erkrankung erkennen können.
Diagnose
Bestimmte Zeichen lassen sich schon mit einem Blick erkennen.
Skelettale Veränderungen und weitere Hinweise auf einen Blick erkennen
Viele der Skelett- und Gelenkveränderungen können bereits ohne röntgenologischen Befund erkannt werden. Aber auch andere Hinweise sind auf den ersten Blick früh zu erkennen, diese sind je nach Verlaufsform stärker oder schwächer ausgeprägt (Abb. 4).
Praxistipp
Der Hands-Up-Praxistest zeigt schnell, ob eine Schultergelenk-beteiligung vorliegt.
Eingeschränkte Schultermobilität – ein Hinweis, der abgeklärt werden sollte
Zunehmende Bewegungseinschränkungen verschiedener Gelenke können Hinweise auf eine MPS I-Erkrankung sein. Neben den bereits erwähnten Kontrakturen an Fingern, Ellenbogen und Kniegelenken sind auch die Schultergelenke schon früh in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt. Da eine Schultergelenksbeteiligung im Kindesalter eher unüblich ist, sollte die Ursache unbedingt abgeklärt werden.
Tipp für die Praxis: Hands-Up-Test
Ob eine Bewegungseinschränkung vorliegt, lässt sich mit einem schnellen, einfach in die Routine einzubauenden Praxistest abklären (Abb. 5). Hierfür soll der Patient die Arme gerade über den Kopf strecken. Auffällig ist der Test, wenn dies dem Patienten nicht gelingt und zudem kompensatorisch bestimmte Bewegungen hinzukommen. Ist dies der Fall, so sollten besonders in Kombination mit weiteren Symptomen einer MPS I diagnostische Maßnahmen durchgeführt werden.
- Steht das Kind gerade oder sind Knie und Ellenbogen leicht angewinkelt?
Achten Sie auf folgenden Bewegungsablauf: - Anfänglich leichtes Hochziehen der Schultern (um Arme überhaupt bewegen zu können) mit anschließender Rückwärtsbewegung des Rückens und Bildung eines Hohlkreuzes.
- Um (scheinbar) die Arme weiter nach oben bewegen zu können, findet gleichzeitig eine kompensatorische leichte Beugung im Hüft- und Kniegelenk statt. Bei Schulterbeteiligung endet die Streckung der Arme vor dem Kopf und nicht gestreckt über dem Kopf.
- Bei zusätzlicher Beteiligung der Ellenbogengelenke können die Arme nicht vollständig gestreckt werden.
Leitfragen zur Diagnose von MPS I
Die folgenden Fragen können Ihnen helfen herauszufinden, ob bei Ihrem Patienten möglicherweise eine MPS I vorliegt. Die Fragen sind in zwei Altersgruppen aufgeteilt. Wählen Sie den Fragebogen, der auf Ihren Patienten zutrifft.
Vor allem wenn Sie mehrere Fragen mit „Ja“ beantworten, sollten Sie weitere diagnostische Schritte zur Abklärung vornehmen.
-
- Hat das Kind eine Gibbus oder eine Kyphose?
- Hat das Kind eine große Zunge (Makroglossie)?
- Hat das Kind vergröberte Gesichtszüge?
- Macht das Kind auffällige Atemgeräusche oder schnarcht es?
- Leidet das Kind vermehrt unter rezidivierenden Atemwegsinfekten?
- Leidet das Kind unter rezidivierenden Otitiden oder vermehrten HNO-Infekten?
- Ist die kognitive Entwicklung des Kindes verzögert?
- Hat das Kind Nabel- oder Leistenhernien?
- Hat das Kind eine Hepatomegalie?
Können Sie mehrere Fragen mit „Ja“ beantworten, sollten weitere diagnostische Schritte zur Abklärung eingeleitet werden. Informationen zur Labordiagnostik von MPS I finden Sie hier.
-
- Liegt das Wachstum des Kindes unter der Norm, verlässt es seine Perzentile oder ist der pubertäre Wachstumsschub verzögert oder ausgeblieben?
- Hat das Kind einen gedrungenen Körperbau?
- Weist das Kind eine Gelenksteifigkeit oder Gelenkkontrakturen auf?
- Hat oder hatte das Kind vermehrt Atemwegsinfektionen oder Otitiden?
- Hat oder hatte das Kind eine oder mehrere Nabel- oder Leistenhernien?
- Waren oder sind bei dem Kind (insbesondere mehrere) orthopädische/HNO/Nabel- bzw. Leistenhernien-Operationen erforderlich?
- Ist das Kind lichtempfindlich und/oder ist die Sehfähigkeit eingeschränkt (z.B. Hornhauttrübung)?
- Liegen Hinweise für eine Herzklappenerkrankung vor (z.B. Herzgeräusche)?
- Hat das Kind eine Hepatomegalie?
- Erscheinen die Gesichtszüge des Kindes auffällig?
Können Sie mehrere Fragen mit „Ja“ beantworten, sollten weitere diagnostische Schritte zur Abklärung eingeleitet werden. Informationen zur Labordiagnostik von MPS I finden Sie hier.
Beck M. Mukopolysaccharidose Typ 1. 2011. https://www.orpha.net/consor/cgi-bin/OC_Exp.php?lng=de&Expert=579, abgerufen am: 04.12.2020
Beck M et al. Genet Med 2014;16(10):759-765
Bruni S et al. Mol Genet Metab Rep 2016;8:67-73
Cimaz R et al. Pediatr Rheumatol Online J 2009;7:18
Clarke LA. In: Adam MP, Ardinger HH, Pagon RA, et al. (Hrsg.). University of Washington, Seattle Copyright © 1993-2021, University of Washington, Seattle. GeneReviews is a registered trademark of the University of Washington, Seattle. All rights reserved., Seattle (WA), 2016
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Goldberg G et al. Klin Monbl Augenheilkd 1985;187(08):120-123
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Manger B et al. Zeitschrift für Rheumatologie 2006;65(1):32-44
Minden K. Arthritis und Rheuma 2019;39:438-439
Muenzer J. Rheumatology (Oxford) 2011;50 Suppl 5:v4-12
Viestenz A et al. Klin Monbl Augenheilkd 2002;219(10):745-748
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