Unspezifische Symptome können Anzeichen einer Mukopolysaccharidose Typ 1 (MPS I) sein

[Autorin: Dr. Christina Lampe]

Zusammenfassung

MPS I ist eine seltene Krankheit und zeigt in ihrem Verlauf meist eine Vielzahl von verschiedenen Symptomen. 

Sie wissen nicht genau was, aber Sie wissen, dass etwas nicht stimmt? Sie wissen nicht genau warum, aber Sie sind irritiert. Verschiedene unspezifische Symptome können isoliert betrachtet eine einfache Erklärung haben, in der Kombination aber können sie einen Hinweis auf MPS I darstellen. Welche Symptome für diese Erkrankung wegweisend sind, welches die Red Flags sind, auf die Sie achten müssen und wie einfach und essentiell eine rasche Diagnostik ist, das erfahren Sie hier.

In den USA haben bereits 21 Staaten die MPSI als Zielerkrankung in das Neugeborenenscreening eingeschlossen. Sie ist deutlich seltener als die Spinale Muskelatrophie (SMA), trotzdem ist eine Diskussion auch bei uns in Deutschland erlaubt, ob eine Erweiterung des Neugeborenenscreenings gerade für diese Erkrankung nicht notwendig ist.

Denken Sie weit(er): Typische Erkrankungen im Kindesalter? Oder doch irritierende Symptome (vor allem in Kombination) als Hinweis auf eine Speichererkrankung?

Eine häufigere ist die MPS I:

Bei MPS I (Mukopolysaccharidose Typ 1) handelt es sich um eine Multisystem-Erkrankung mit einem großen Spektrum an Symptomen. Diese seltene Erkrankung kann sich sowohl im Säuglingsalter als auch im Kindes-/Jugend- oder Erwachsenenalter (attenuierte Verlaufsform) manifestieren. Je nach Krankheitsschwere treten die Erstsymptome zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt auf. Ein früher Therapiebeginn kann das Fortschreiten der Erkrankung aufhalten oder verlangsamen und ist somit entscheidend für Lebensdauer und – Qualität. Bei der schweren Form der MPS I manifestiert sich die Erkrankung bereits im Säuglings- oder Kindesalter. Da die Kinder bei Geburt zunächst gesund erscheinen, sich anfangs normal entwickeln und die auftretenden Symptome vielfach unspezifisch sind, lassen sie zuerst an typische Kinderkrankheiten denken (Infografik 1, Abb. 3) (Clarke 2016):

  • Rezidivierende Ohr- u./o. Atemwegsinfekte
  • Nabel- und/oder Leistenhernien
  • Laute Atemgeräusche, frühkindliches Schnarchen, Schlafprobleme

Im Verlauf der Erkrankung und je nach Alter und Ausprägung kommen weitere, meist progrediente Symptome hinzu, wie z. B. (Infografik 1, Abb. 3):

MPS I ist variabel im Krankheitsbeginn, in der Schwere der Erkrankung und im Verlauf. Die Erstsymptome sind häufig sehr unspezifisch, das erschwert die Diagnose. Irritierende Symptome -vor allem in der Kombination- können zu konkreten Verdachtsmomenten führen/ erhärten den Verdacht auf eine komplexe Grunderkrankung/ Speichererkrankung. Häufiges ist nicht immer banal. (Lampe 2013).

Röntgenaufnahme der LWS seitlich, Ovoide Wirbelkörper mit zentralen Ausziehungen, thorakolumbaler Gibbus,  4 Jahre und 4 Monate alte/r Patientin mit MPS I

Abbildung 1: Röntgen der LWS seitlich, Ovoide Wirbelkörper mit zentralen Ausziehungen, thorakolumbaler Gibbus, 4 Jahre und 4 Monate alte/r Patientin mit MPS I (Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Christina Lampe)

Röntgenaufnahme einer Beckenübersicht mit Hüftdysplasie, 3 Jahre und 9 Monate alte/r Patientin mit MPS I

Abbildung 2: Beckenübersicht mit Hüftdysplasie, 3 Jahre und 9 Monate alte/r Patientin mit MPS I (Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Christina Lampe)

Verlaufsformen der MPS I

Bei MPS I unterscheidet man drei klinische Verlaufsformen: eine schwere (Morbus Hurler) eine intermediäre (Morbus Hurler-Scheie) und eine attenuierte Verlaufsform (Morbus Scheie). Bei allen Formen liegt der gleiche Enzymdefekt vor, dennoch unterscheiden sich der Schweregrad der Symptome und die Lebenserwartung deutlich. Die Übergänge zwischen den einzelnen Formen sind fließend (Abb. 1) (Beck 2014, D'Aco 2012, Muenzer 2009). Die Genotyp-Phänotyp-Korrelation ist nur für wenige Mutationen nachgewiesen.

Übersicht unspezifische Symptome MPS 1 nach Verlaufsform

Abbildung 3: Exemplarische Darstellung verschiedener Verlaufsformen von MPS I.  A), B) Patientinnen mit M. Hurler-Scheie; C) Patient mit M. Scheie. (Bildquelle: Genzyme Corporation) 

  M. Hurler M. Hurler-Scheie M. Scheie

Medianes Alter bei Erstmanifestation (Beck 2014)

0,5 Jahre 2,0 Jahre 4,9 Jahre

Progredienz

schnell mittel langsam

Kognitiver Status (Muenzer 2009)

Ausgeprägte Verzögerung der geistigen Entwicklung, Verlust des bereits Erlernten Geistige Retardierung möglich Keine Beeinträchtigung

Lebenserwartung von unbehandelten Patienten (D´Aco 2023)

< 10 Jahre < 30 Jahre Erwachsenenalter

    Erste Symptome bei Morbus Hurler: (nach den Quellen: Beck 2014, Hampe 2020)

    • Nabel- / Leistenhernien
    • Gibbus / Kyphose
    • Atemgeräusche / Schnarchen
    • Gesichtsdysmorphie
    • Entwicklungsverzögerung mit mentaler Retardierung

    Kinder mit Morbus Hurler (auch Hurler-Syndrom) erscheinen bei der Geburt normal, sind häufig sogar etwas größer und wachsen in der Regel schnell. Erste Symptome der Erkrankung sind unspezifisch: Nabel- und/oder Leistenbrüche (Hernien), häufige Atemwegsinfektionen, Atem- und Schnarchgeräusche. Im Laufe des ersten Lebensjahres kommt es zu einer zunehmenden Vergröberung der Gesichtszüge und einer Kyphose, die sich meist in Form eines Gibbus zeigt. Typischerweise entwickelt sich in den ersten zwei Lebensjahren eine Multisystemerkrankung mit kardialer Beteiligung, einer Hepatosplenomegalie, einer Hornhauttrübung und einer Dysostosis multiplex mit einer zunehmenden Einschränkung der Gelenkbeweglichkeit ohne systemische Entzündungszeichen und eine Hornhauttrübung kann hinzukommen. Manche Patienten zeigen einen Makrocephalus, manche einen Hydrocephalus. Rezidivierende Otitiden führen zu einem zunehmenden Hörverlust. Im weiteren Verlauf wird eine Entwicklungsverzögerung auffällig und eine zunehmende mentale Retardierung tritt auf, die zu einem Stillstand oder aber zum Verlust des bereits Erlernten führt. Im Alter von etwa drei Jahren nimmt das lineare Größenwachstum bis hin zu einem Wachstumsstopp ab. Die Pubertät tritt verspätet ein und ein Pubertätswachstumsschub bleibt aus, so dass betroffene Kinder häufig einen deutlichen Minderwuchs zeigen und auch in der weiteren Entwicklung kleinwüchsig bleiben. Wird die Erkrankung nicht behandelt, kann Morbus Hurler innerhalb der ersten zehn Lebensjahre zum Tod durch kardiorespiratorisches Versagen führen (Beck 2014, Clarke 2016, Lampe 2016).

    Fotos unspezifische Symptome bei MPS 1-Form Morbus Hurler

    Abbildung: MPS I-Morbus Hurler – typische Symptome. A) Vergröberte Gesichtszüge B) Gibbus C) Nabelhernie,. Bildquellen: A) und C) (Kubaski 2020). B) Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Norberto Guelbert. 

    Erste Symptome bei Morbus Hurler-Scheie: (nach den Quellen: Beck 2014; Vijay 2005) (Hampe 2020):

    • Nabel- / Leistenhernien 
    • Gibbus / Kyphose 
    • Atemgeräusche / Schnarchen 
    • Gesichtsdysmorphie 
    • Entwicklungsverzögerung mit mentaler Retardierung

    Die beiden milderen Verlaufsformen der MPS I, Morbus Hurler-Scheie und Morbus Scheie, unterscheiden sich untereinander vor allem im Alter bei Symptombeginn und der Erkrankungsprogression. Die attenuierten Verlaufsformen werden oft spät erkannt. Während beim Morbus Hurler-Scheie die ersten Symptome bereits in einem Alter von zwei bis drei Jahren auffallen und eine mittlere Progression aufweisen, treten die Symptome bei der langsam progredienten Verlaufsform, dem Morbus Scheie (auch Scheie-Syndrom), erst nach dem dritten oder vierten Lebensjahr auf. Im Gegensatz zur schweren Verlaufsform Morbus Hurler weisen die attenuierten Verlaufsformen keine, oder im Falle des Morbus Hurler-Scheie, nur eine sehr geringe mentale Retardierung auf. Die Gesichtsdysmorphie erscheint bei beiden Verlaufsformen milder, beim Morbus Scheie tritt sie erst spät im Krankheitsverlauf in Erscheinung (Beck 2014, D'Aco 2012, Muenzer 2009).

    Erste Symptome bei Morbus Scheie: (nach den Quellen: Beck 2014; Vijay 2005)

    • Nabel- / Leistenhernien
    • Häufige HNO- u/o. Atemwegsinfekte
    • Eingeschränkte Wachstumsgeschwindigkeit / Kleinwuchs
    • Gelenkkontrakturen
    • Atemgeräusche / Schnarchen

    Bei beiden Verlaufsformen zählen Hernien, und häufige HNO- und Atemwegsinfekte sowie Gelenkkontrakturen bzw. -steifigkeit zu den ersten Symptomen.. Aufgrund der zunehmenden Einschränkungen der Beweglichkeit und der Gelenkkontrakturen landen diese Patienten häufig primär in der Rheumatologie. Im weiteren Verlauf kann es zu skelettalen Veränderungen (Dysostosis multiplex) kommen und eine Hornhauttrübung auftreten. Die Wachstumsgeschwindigkeit kann zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr abnehmen oder wird auffällig. Ein meist beidseitiges Karpaltunnelsyndrom und eine Herzklappenerkrankung in Form von Klappenvitien können im späteren Verlauf hinzukommen (Beck 2014, Guffon 2019, Viskochil 2019).

    Fotos unspezifische Symptome bei MPS 1-Form Morbus Scheie und Hurler-Scheie

    Abbildung 5: A) Hornhauttrübung; B) Gelenkkontrakturen an Händen, Ellenbogen, Finger- und Schultergelenken bei Patienten mit Morbus Scheie; C) Gesichtsdysmorphie bei Patientin mit Morbus Hurler-Scheie. Bildquellen: A) Mit freundlicher Genehmigung von Munoz V. B) und C) Sanofi-Aventis Deutschland GmbH

     

    Je nach Verlaufsform und Alter stehen verschiedene Symptome im Vordergrund (Beck 2011).

     

    • Kopf

      • Gesichtsdysmorphie
      • Vergrößerter Kopfumfang
      • Makroglossie

      Skelett

      • Dysproportionierter Kleinwuchs
      • Kleine Statur
      • Gelenkkontrakturen / -steifigkeit
      • Dysostosis Multiplex

      Herz

      • Klappenvitien

      Neurologisch

      • Abbau kognitiver Fähigkeiten
      • Karpaltunnelsyndrom

      Augen

      • Hornhauttrübung

      HNO

      • Wiederkehrende Otitiden
      • Häufige Atemwegsinfekte
      • Atemgeräusche / Schnarchen

      Viszeral

      • Hepatosplenomegalie
      • Nabel- / Leistenhernien

      Motorik

      • Verzögerte Entwicklung
      • Eingeschränkte Fein- und Grobmotorik
    • Kopf

      • Gesichtsdysmorphie
      • Vergrößerter Kopfumfang
      • Makroglossie

      Skelett

      • Dysproportionierter Kleinwuchs
      • Kleine Statur
      • Gelenkkontrakturen / -steifigkeit
      • Dysostosis Multiplex

      Herz

      • Klappenvitien

      Neurologisch

      • Abbau kognitiver Fähigkeiten
      • Karpaltunnelsyndrom

      Augen

      • Hornhauttrübung

      HNO

      • Wiederkehrende Otitiden
      • Häufige Atemwegsinfekte
      • Atemgeräusche / Schnarchen

      Viszeral

      • Hepatosplenomegalie
      • Nabel- / Leistenhernien

      Motorik

      • Verzögerte Entwicklung
      • Eingeschränkte Fein- und Grobmotorik

    Seltene Symptome | Häufige Sysmptome

    Infografik 1: Mögliche Symptome der Mukopolysaccharidose Typ 1 (nach Alter); modifiziert nach Beck 2014. 

Häufigste Symptome der verschiedenen Verlaufsformen und Alter bei Erstmanifestation von MPS I

Häufigkeit und Schweregrad der Symptome bei MPS I sind abhängig von der Verlaufsform sowie dem Alter bei Erstmanifestation. Abbildung 6 zeigt die Symptome, die bei den verschiedenen Verlaufsformen in den angegebenen Altersgruppen am häufigsten auftreten (Beck 2014).

Red Flags sind die Big Five:

G G H H H:

Gesichtsdysmorphien, Gelenkkontrakturen,
Hornhauttrübung, Hernien, Hepatomegalie.

MPS I ist behandelbar. Die Therapie richtet sich nach der Verlaufsform der Erkrankung und setzt sich aus der spezifischen Behandlung und supportiven Maßnahmen zusammen. Bei Patienten mit einer schweren Verlaufsform unter 2,5 Jahren kommt auch eine Stammzelltransplantation in Frage.

Je rascher die Diagnose desto früher der Therapiebeginn.
Dies ist entscheidend für die Lebensqualität dieser Patienten! Deshalb: denken sie weit(er)!

Da die Behandlung der MPS I viel Erfahrung erfordert, sollten die Patienten umgehend nach der Diagnosestellung bzw. bereits bei dringendem klinischem Verdacht zur Diagnosestellung in ein Zentrum mit entsprechender Erfahrung überwiesen werden. Die dauerhafte Anbindung an ein Zentrum mit entsprechender Expertise zur regelmäßigen Verlaufskontrolle durch ein interdisziplinäres Team sollte sichergestellt werden.

Textwerk wurde initiiert, um relevante medizinisch-wissenschaftliche Informationen für die ärztliche Praxis zur Verfügung zu stellen.

In Redaktionsteams bestehend aus Expert*innen und niedergelassenen Pädiater*innen wurde diese Seite mit dem Fokus auf Qualität und Praxisrelevanz erstellt.

Wir bedanken uns bei den mitwirkenden Autor*innen und Reviewer*innen.

Autorin:
Dr. med. Christina Lampe
Oberärztin
Zentrum für seltene Erkrankungen Gießen (ZSEGI)
Univ.-Klinikum Gießen / Marburg

 

 

    Beck M. Mukopolysaccharidose Typ 1. 2011. https://www.orpha.net/consor/cgi-bin/OC_Exp.php?lng=de&Expert=579, abgerufen am: 04.12.2020

    Beck M et al. Genet Med 2014;16(10):759-765

    Vijay S et al. Acta Paediatr 2005;94(7):872-877

    Clarke LA. In: Adam MP, Ardinger HH, Pagon RA, et al. (Hrsg.). University of Washington, Seattle Copyright © 1993-2021, University of Washington, Seattle. GeneReviews is a registered trademark of the University of Washington, Seattle. All rights reserved., Seattle (WA), 2016

    D'Aco K et al. Eur J Pediatr 2012;171(6):911-919

    Guffon N et al. Eur J Pediatr 2019;178(4):593-603

    Hampe CS, Eisengart JB, Lund TC, Orchard PJ, Swietlicka M, Wesley J, McIvor RS. Mucopolysaccharidosis Type I: A Review of the Natural History and Molecular Pathology. Cells. 2020 Aug 5;9(8):1838

    Kubaski F et al. Diagnostics 2020;10(3):161

    Lampe C. Thieme Praxis Report 2016;8:1-16

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    Muenzer J et al. Pediatrics 2009;123(1):19-29

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